Im Guohpervágge

Es war doch nicht die erwartet kalte Nacht mit „nur“ -10°C am Morgen. Es ist windstill und schneit leicht bei schlechter Sicht. Während des Frühstücks wird die umheimliche Stille, die immer dann herrscht, wenn der Kocher gerade nicht läuft, plötzlich durch Motorengeräusche unterbrochen. Zunächst trauen wir unseren Ohren nicht so recht, bis wir drei aus Norden kommende Scooter ausmachen, die direkt auf uns zu halten. Sie passieren unser Camp leicht unterhalb am Seeufer und nehmen dann die Auffahrt über die Landzunge hinweg in Richtung Bårájavrre See nach Süden. Es scheinen Sami zu sein, die vielleicht zum Eisangeln an den See wollen, an dessen Ufer sich eine in der Karte verzeichnete Renvaktarstuga befindet. Kurzer Gruß im Vorbeifahren, dann wird es wieder still. Während wir zusammenpacken, kommen die Scooter über den gleichen Weg wieder zurück. Scheinbar haben sie doch nur Ausrüstung zur Stuga gebracht?  Wir werden es nie erfahren. Um 10:40 Uhr sind wir bereit zum Aufbruch. Leider ist der ersehnte Wetterumschwung nicht gekommen. Es ist warm geworden bei nur noch -3°C und der Neuschnee der letzten Nacht läßt uns beim Spuren schnell ins Schwitzen kommen. Die Sicht ist immerhin so gut, das wir die das Guohpervágge begrenzenden Berghänge erkennen und so auf den Kompaß verzichten können. Das untere Tal ist durch den mäandernden Låvdakjåhka fast einen Kilometer breit und läßt sich sehr leicht gehen. Im Sommer dürfte das, durch sumpfiges Gelände und das allgegenwärtige Weidengestrüpp, weitaus mühsamer sein. Jetzt macht sich dieses nur durch die den Schnee durchdringenden Spitzen bemerkbar und wir können problemlos darüber hinweg gleiten. Dafür ist es im Sommer  wohl um einiges schöner in diesem dann üppig grünen Tal. Man kann halt nicht alles haben.

Kilometer um Kilometer spulen wir im langsamen, aber stetigen Tempo im sich nicht auflösenden Nebel ab. Mal gibt es kurze Schneeschauer, dann bessert sich die Sicht wieder kurzzeitig, so dass sich die höher werdenden Felswände aus den Wolken schälen. Ungefähr auf Höhe des Zuflusses Alep Låvdakruvtásj rasten wir zu Mittag und nehmen die ersten leichteren Böen aus nordwestlicher Richtung wahr. Bei gutem Wetter hätte man über eine Besteigung des sehr markanten Guohper-Gipfels (1686m, samisch für Hufeisen) nachdenken können, der von unserem jetzigen Standort über den Nordwestgrad recht leicht erreichbar ist, zumindest im Sommer. Aber jetzt hier das Zelt aufzustellen und auf gutes Wetter für morgen zu spekulieren, ist uns doch zu unsicher.  Also weiter durch das immer enger werdende Tal mit stärker werdendem Wind im Rücken. Wir passieren die 900m hoch aufragende Südwand des Guohper, während auf der gegenüberliegenden Talseite die Seitenmoränen eines kleinen Nischengletschers erkennbar sind.  Es ist ein Jammer jetzt so ein Wetter zu haben. Der Wind hat sich zum leichten Sturm aufgebaut und treibt uns mehr oder weniger durchs Tal, ohne das wir viel davon mitbekommen. Das Minimalziel für heute, die Wasserscheide des Tales auf 829m erreichen wir gegen 16:30 Uhr. Durch das völlig flach verlaufende Tal ist dieser Punkt allerdings nur durch die Möranen des Vattendelarglaciären (Wasserscheidengletscher) zu erkennen. Dieser Gletscher entwässert in beide Richtungen des Tales, was im Sarek nur an dieser Stelle vorkommt. Zu sehen ist davon jetzt im Winter allerdings nichts. Da das Tal hier auch erstmalig wieder etwas breiter wird, beschließen wir das Zelt aufzubauen, da der Sturm immer stärker wird. Die Alternative wäre gewesen, noch gut 4 km weiter bis zur Renvaktarstuga am Zusammenschluß mit dem Álggavágge zu gehen und auf eine offene Hütte zu hoffen. Falls wir dort aber nichts finden, müßten wir das Zelt doch aufbauen, falls es bei noch stärkerem Sturm dann überhaupt noch ginge.
Der Aufbau des Zeltes wird der schwierigste und langwierigste, den ich je erlebt habe.  Zunächst läuft alles glatt beim Einfädeln der drei Gestängebögen in die Känale. Trotz fauchender Böen gelingt es uns, das Zelt einigermaßen am Boden zu halten. Auch einen zweiten Satz aus nochmal drei Gestängebögen fädeln wir in die dafür vorgesehenen Schlaufen des Zeltes. Sobald wir aber das Zelt aufrichten wollen, wird es durch den Sturm sofort wieder zu Boden gedrückt und droht wegzufliegen. Die offenen Endhülsen der Bögen haben sich teilweise mit Eis zugesetzt, weshalb sie nicht  in die an den Zeltecken befindlichen Splinte geschoben werden können. Dazu kommt, dass durch die doppelten Bögen wesentlich mehr Kraft nötig ist, diese weit genug zu biegen, um die Splinte überhaupt zu erreichen. Was daheim bei idealen Bedingungen im Garten kein Problem ist, gerät hier zur Unmöglichkeit. Wir bekommen das Zelt absolut nicht aufgestellt. Verzweifelt versuchen wir es weiter, aber es will einfach nicht klappen. Für einen Moment glaube ich nicht mehr daran, das wir es schaffen und spiele innerlich schon die Möglichkeiten durch, die uns bleiben. Es sind eigentlich nur zwei: einschaufeln in den Schnee oder weitergehen und auf die Renvaktarstuga hoffen. Kay schreit mich aus meinen Gedanken: Das Zweitgestänge muß wieder raus! Beide halb auf dem Zelt liegend fädeln wir die drei Bögen des Zweitgestänges wieder aus den Schlaufen. Dann folgt der nächste Aufstellversuch. Mit der Ahle des Taschenmessers bekomme ich das Eis zwar aus den verstopften Endhülsen heraus, muß dazu aber die dicken Handschuhe ausziehen. Es dauert keine Minute, bis meine Hände jedes Feingefühl verloren haben. Endlich ist der erste Bogen gespannt. Kritisch wird es beim Zweiten, der das Zelt richtig aufrichtet und damit voll in den Wind stellt. Während ich versuche, die Hülse in den Splint zu stecken, stemmt sich Kay mit seinem ganzen Gewicht dagegen und hält es, sogut es geht, aufrecht. Kaum ist der zweite Bogen in Position, suche ich nach den vorher bereitgelegten Schneehäringen, um die Zeltecken zu fixieren. Nein, nicht auch das noch: sie sind alle verweht und unauffindbar. Während ich das Zelt mit Mühe festhalte, schaufelt Kay Häringe und auch die inzwischen verwehten Ski wieder aus. Einige Häringe bleiben verschollen, aber immerhin reichen die wiedergefundenen, um das Zelt erst einmal notdürftig zu fixieren. Dann müssen die wild umherfliegenden Abspannleinen entwirrt werden, die in einem heillosen Chaos miteinander verwurschtelt sind. Das dauert noch einmal eine Ewigkeit und erfordert erneut, die sowieso schon kalten Hände aus den dicken Handschuhen zu nehmen. Als wir fertig sind, können wir die Finger kaum noch bewegen. Nachdem die zwei Hauptabspannleinen der dem Wind zugewanden Seite mit den Ski abgespannt sind, steht das Zelt erstmals allein und wir können uns endlich wieder frei bewegen, ohne Angst haben zu müssen, das es wegfliegt. Das war’s; jetzt schaffen wir es. Nach Spannen des dritten Bogens beschweren wir die Schneelappen rund um das Zelt mit Schnee  und ziehen dann das Zweitgestänge, Bogen für Bogen, in die Schlaufen ein.  Als unsere Festung endlich komplett abgespannt und eingeschaufelt  ist, schaue ich auf die Uhr und kann es kaum glauben: wir haben 1:20 Std. (!!) für den Aufbau gebraucht. Nichts wie rein in die gute, zwar nicht warme, aber doch windgeschützte Stube. Kaum haben wir uns einigermaßen eingerichtet, die nassen Klamotten ausgezogen und den ersten heißen Jagertee in der Hand fragen wir uns, warum wir uns eigentlich so angestellt haben. Hier im Zelt ist es doch ganz erträglich…


Tagesdaten:

Strecke 14,5km, Aufstieg 210m, Abstieg 55m, Gesamtzeit 6h, Gehzeit 5h