Sonnabend, 12.6.21

Mit dem Nachtzug von Berlin nach Basel

Als Ersatz für die in diesem Jahr leider nicht mögliche Backcountry-Skitour nach Skandinavien und vor allem als Vorbereitung zu unserer geplanten Nepaltour haben Jens, Kay und ich eine Hochtourenwoche im schweizerische Wallis geplant, um unsere Höhenverträglichkeit, Ausrüstung und Teamfähigkeit zu testen. Wir haben uns dazu eine Route nahezu reine Gletschertour mit Übernachtungen in besonders hoch gelegenen Hütten herausgesucht. Von Zermatt, soll es morgen zunächst zur 3030m hoch gelegenen Gandegghütte unterhalb des Breithorns gehen. Von dort werden wir dann auf die italienische Seite wechseln und eine Umrundung des  Breithorn- und Liskammes bis zum Monte-Rosa-Massiv durchführen und dabei die Schlafhöhen schrittweise erhöhen. Dabei wollen wir einige 4000er besteigen und, ausreichende Akklimatisation vorausgesetzt, in Europas höchstgelegener Berghütte auf der Signalkuppe (4554m) übernachten. Von dort soll es dann über den spaltenreichen Grenzgletscher wieder zurück nach Zermatt gehen. Der Wetterbericht verspricht hervorragendes Wetter mit viel Sonne, wenig Wind und keinem Niederschlag! Wir haben nichts dagegen einzuwenden. Um möglichst erholt in Zermatt anzukommen, fahren wir zunächst nachmittags mit dem Zug nach Berlin, um im Liegewagen des ‚Nightjets‘ nach Basel SBB zu fahren, von wo es dann am Sonntag morgen schnell über Bern und Visp nach Zermatt geht.


Sonntag, 13.6.21

Von Zermatt zur Gandegghütte

Pünktlich kommen wir in Zermatt an, essen noch ein Baguette zum Mittag und laufen dann in Richtung der Liftstation zum ‚Trockenen Steg‘. Wir hatten uns aufgrund der Schneelage dafür entschieden, nicht von unten zur Hütte aufzusteigen, um der Schinderei durch den aufgeweichten Schnee zu entgehen. Um uns trotzdem etwas einzulaufen steigen wir bis zum Weiler Furi auf 1840m auf. Mehr aus Versehen nehmen wir den Umweg über das sehr schöne Dörfchen Zmutt, in dem es noch viele traditionelle Holz- und Steinhäuser gibt.

Endlich in Furi angekommen, katapultiert uns die Seilbahn in wenigen Minuten gut 1000m höher zum ‚Trockenen Steg‘ auf 2929m. Hier oben ist das Sommerskigebiet teilweise noch in Betrieb und präparierte Pisten ziehen hinauf bis fast 4000m. Skifahrer gibt es allerdings fast keine mehr hier oben. Bei circa +15°C suchen wir uns einen Weg durch den völlig aufgeweichten Schnee in Richtung der nochmal 100Hm höher liegenden Gandegghütte. Nur gut, das wir nicht von unten durch diesen Schnee aufgestiegen sind. Nach recht anstrengenden 45min und mehrmaligem, fast hüfttiefen Einsinken erreichen wir die kleine private Hütte direkt gegenüber der Nordseite des Breithornkammes.

Außer uns sind nur 2 andere Gäste da und so wird es ein sehr entspannter Nachmittag auf der Terrasse der Hütte, welcher gerade einen Tag vorher aufgemacht hatte. Das Panorama ist grandios. Dom, Täschhorn, Allalinhorn, Rimpfischhorn, die gesamte Monte Rosa Gruppe, Liskamm, Breithorn, Dent Blanche, Zinalrothorn und in unmittelbarer Nähe das Matterhorn. Fast 20 Viertausender kann ich von hier aus ausmachen. Unseren morgigen Aufstieg erkunden wir auch nochmal kurz und hoffen, dass der Schnee heute Nacht wieder ordentlich durchfriert und damit härter wird. Mal sehen, wie wir die erste Nacht in der Höhe verkraften…


Montag, 14.6.21

Zweimal Breithorn und Abstieg nach Italien

Um 5 Uhr klingelt der Wecker, wir frühstücken zunächst kurz und brechen dann gegen 6 Uhr bei gutem Wetter auf. Die Sonne strahlt bereits die großen Berge um uns herum an, während wir noch im kühlen Schatten bei nur wenigen Plusgraden in Richtung der Skipiste am Theodulgletscher gehen. Glücklicherweise ist der Schnee einigermaßen hart und wir sinken nur ab und zu etwas ein. Nach nur 20min erreichen wir die präparierte Skipiste und steigen auf dem vielleicht 20m breiten Streifen bis zur noch geschlossenen Theodulhütte auf, bevor wir einen kleinen Schwenk in Richtung Südost zu den oberen Skiliften des Plaeteau Rosa machen. Auch wenn die Skipiste uns den Aufstieg hier doch sehr erleichtert, schön sind die vielen Lifte, Pisten und Hütten sicher nicht direkt unterhalb des majestätischen Matterhorns. Eine Piste zweigt auf ca. 3500m jetzt nach Westen ab und erklimmt den folgenden, steilen Aufschwung an der Felsinsel 3642m hinauf zum Kleinen Matterhorn. Von der ganzjähig geöffneten italienischen CAI Hütte an der Testa Grigia (3479m) kommen jetzt einige Skitourengeher herüber, die wahrscheinlich auch in Richtung Breithorn unterwegs sind.

Gegen 9 Uhr stehen wir am Breithornpass und treffen nun auch auf die ersten Leute, die direkt aus Zermatt mit der Seilbahn aufs Kleine Matterhorn (3817m) gefahren sind. Genau das wollten wir aus Gründen der Akklimatisation und vielleicht auch ein wenig aus sportlicher Fairness nicht tun. Wenigstens haben wir bis hierher schon 800Hm Aufstieg hinter uns. Mit vielleicht 50 anderen Leuten, darunter viele Skitourengeher und organisierte Gruppen, die mit Bergführer unterwegs sind, nehmen wir den Anstieg zum Breithorn-Westgipfel, der mit 4167m der höchste des 2,5km langen Breithornkammes ist, unter die Füße. Dieser wird über seine weitläufige, nicht allzu steile Südflanke mit einer maximalen Steigung von vielleicht 35° erstiegen und eignet sich deswegen auch hervorragend als Skitourenziel. Aufgrund fehlender Akklimatisation japsen wir ganz schon nach Luft und müssen deswegen oft kleinere Pausen machen. Trotzdem stehen wir nach gut 1:30h auf dem 4167m hohen Westgipfel und machen ausgiebig Pause.

Wetter und Aussicht sind fantastisch, direkt vor uns das Matterhorn, während zur anderen Seite das gesamte Monte-Rosa-Massiv thront. Nach Norden erheben sich die 4000er von Saas-Fee mit Allalinhorn, Rimpfischhorn, Strahlhorn und fast 2000m tiefer direkt unter uns zieht der Grenzgletscher seine kilometerlange Bahn in Richtung Zermatt. Über den östlichen Grat steigen wir ins 4085m hohe Joch ab, deponieren dort die Rücksäcke und steigen dann über den schmalen und etwas steileren Grat in wenigen Minuten zum nur wenige Meter niedrigeren Breithorn-Zentralgipfel (4156m). Zurück am Joch steigen wir nun wieder in Richtung Breithorn-Plateau bis auf 3850m ab und schwenken dann nach Osten auf den Verra-Gletscher, um unterhalb des Breithornkammes zum Schwarztor vorzustoßen. Es ist 13 Uhr, die Sonne brennt und es ist unfassbar warm für diese Höhe. Und erst jetzt wird uns langsam bewußt, dass unser Tag noch lange nicht beendet ist, obwohl wir schon 1200Hm Aufstieg in den Beinen haben. Der Schnee weicht minütlich mehr auf, was zu kräfteraubendem Einsinken speziell bei Jens führt. So zieht sich der Abstieg zum Rifugio noch einmal fast 3 1/2 Stunden. Endlich passieren wir die Felsinsel südlich des Roccia Nera, auf dem in spektakulärer Lage das kleine Bivacco Rossi e Volante (3787m) thront. Danach folgt ein weiterer kleiner Anstieg bis zum Fuß des Pollux-Südwestgrates, hinter dem es endlich, einen Eisbruch umgehend, die letzten 400Hm hinab zum Rifugio Guide d’Ayas geht. Natürlich ist unser Wasservorrat mittlerweile aufgebraucht und wir beginnen, Schnee zu essen, da unsere Kehlen völlig ausgetrocknet sind. Erst gegen 16:30 Uhr erreichen wir das schon geöffnete Rifugio und kaufen erstmal eine 1,5l Wasserflasche – für jeden von uns.

Wie erholen uns einigermaßen bis zum reichlichen Abendbrot und liegen schon gegen 21Uhr im Bett. Außer uns ist nur noch ein Pärchen von der italienischen Südseite aufgestiegen, sonst sind nur das Hüttenpersonal und einige Arbeiter anwesend, welche den Hüttenausbau scheinbar noch vor der anstehenden Saison abschließen wollen. Für unsere noch nicht optimale Akklimatisation waren die 1400Hm Aufstieg bei gut 17km Strecke und diesen Schneebedingungen wohl recht heftig für den Anfang… Fast 11 Stunden waren wir unterwegs.


Dienstag, 15.6.21

Überschreitung des Castor (4223m)

Da die Castorflanke eine nordwestliche Ausrichtung hat und somit sehr spät in der Sonne liegt, gönnen wir uns etwas mehr Schlaf und stehen erst um 6 Uhr auf. Nach dem Frühstück mit diesmal reichlich Kaffee und Tee starten wir kurz nach 7:30 Uhr. Durch den jetzt hartgefrorenen Schnee kommen wir schnell voran, folgen unseren gestrigen Abstiegsspuren zurück zum Zwillingspass und erreichen den Wandfuß des Castors auf circa 3800m schon nach gut einer Stunde.

Hervorragender Trittschnee und eine ältere Spur lassen uns schnell Höhe gewinnen. Die Steiheit liegt vielleicht bei 35°, kurzzeitig auch etwas mehr. Trotz der noch fehlenden Sonne ist es angenehm warm, da es völlig windstill ist. Über einige Zigzacks und vorbei an kleineren Seraks gewinnen wir schnell Höhe. Die Schlüsselstelle des Aufstiegs stellt der Bergschrund kurz vor dem Gipfelgrat dar, der nicht immer leicht zu überwinden sein soll. Bei wenig Schnee, also meist später in der Saison, kann dieser unüberwindlich werden. Dieses Problem haben wir heute allerdings nicht, da es recht sicher wirkende Schneebrücken gibt. Direkt oberhalb des Schrundes steilt der Hang zum Grat hin aber bis zu 50° auf und zeigt bereits etwas Blankeis. Deswegen entscheiden wir uns dazu, etwas links über eine Felsrippe aufzusteigen. Oben am Grat finde ich hier sogar eine Sicherung und kann die anderen schnell nachsichern. Von hier führt jetzt ein messerscharfer Schneegrat in wenigen Metern zum Gipfel. Ein Traumpanorama erwartet uns hier oben, welches wir zudem noch völlig für uns allein haben. Bis zum Mont Blanc reicht der Blick, dazu in unmittelbarer Nähe die 4000er um Zermatt und Saas-Fee, im Norden die Berge des Berner Oberlandes und direkt vor uns der eindrucksvolle Liskamm mit seinem West- und Ostgipfel (4479m und 4533m) .

Nach ausgiebiger Rast geht es jetzt über einen weiteren, allerdings nicht mehr ganz so schmalen Schneegrat hinab ins Felikjoch, wo wir auf einige Skispuren treffen, welche direkt vom Joch eine steile Firnflanke schräg nach unten führen. Zunächst sieht dieser Weg ganz gut aus, dann aber treffen wir auf Blankeis, was die Sache heikel macht. Der Hang wird hier auch zunehmend steiler, ich schätze so um die 50°. Ein Abrutschen hier würde uns alle mitreißen und wir würden wohl erst am Ende des Hanges wieder zum Stehen kommen. Zur Sicherheit setzen wir mehrere Eisschrauben und versetzen diese während des Gehens, so dass wir immer 2 Schrauben zwischen uns haben. Mit Pickel und Steigeisen versuche ich, Tritte in die vereisten Stellen zu schlagen. Das ist ziemlich mühsam und für die vielleicht 500m brauchen wir so fast eine Stunde. Immerhin, einen kleinen Abrutscher von Jens können wir problemlos halten, was das Vertrauen in unsere Methode nochmal steigert. Irgendwann läßt die Steilheit des Hanges nach und der Schnee wird wieder weicher. Der restliche Abstieg zum Gletscher geht nun schnell und ist problemlos. Später erfahren wir, dass dieser Hang nur bei guten Verhältnissen mit Ski befahren wird und der normale Weg eigentlich über das Felikhorn geht, um den steilen Hang zu vermeiden. Naja, dafür hatten wir eine spannende Stelle und konnten mal den praktischen Einsatz der Eisschrauben üben. Unten am Gletscher angekommen, machen wir erstmal Pause.

Die Kehlen sind durch die Hitze wieder wie ausgetrocknet und unser Wasser ist fast alle. Wir liegen immer noch gut in der Zeit und der Schnee trägt gerade noch. Erst, als Hütte schon sehr nah ist, sinken wir immer wieder in den jetzt zunehmend weicher werdenden Schnee. Kay tritt auch einmal in eine Spalte, kann sich aber mit den Armen abstützen, während Jens und ich ihn mit einem kräftigen Zug wieder herausziehen. Gegen 15:30 Uhr erreichen wir die noch geschlossene Hütte Rifugio Quintino Sella auf 3595m. Außer uns sind keine weiteren Gäste da, lediglich das Hüttenpersonal werkelt noch an der Erweiterung der Hütte, welche nächste Woche öffnen wird. Wir ziehen in die sehr rustikale, alte Winterhütte ein, welche über einen Ofen, einen Gaskocher und genügend Betten mit Decken verfügt. Essen haben wir ja für mindestens 2 Tage dabei und so können wir endlich das Rucksackgewicht etwas nach unten drücken.


Mittwoch, 16.6.21

Über den Paso del Naso (4150m) zum Bivacco Giordano

Obwohl der Wecker bereits um 5 Uhr klingelt, schaffen wir es nicht wie geplant um 6 Uhr aufzubrechen. Erst gegen 7 Uhr nehmen wir den Felikgletscher unter die Steigeisen.  In einem weiten Bogen nach Norden überqueren wir den Lysgletscher und steigen nur leicht in Richtung der 4000m Höhenlinie auf, die grandiosen Gipfel des Liskammes immer direkt links von uns. Nach morgendlichem Nebel zeigt sich jetzt auch wieder die Sonne. Der Schnee ist so früh am morgen bretthart, was hoffentlich noch eine Weile so bleiben wird. Nach ca. 2 Std. stehen wir an der heutigen Schlüsselstelle, einem bis 45° steilen Firnhang, der sehr oft vereist ist und dann heikel sein kann.

Der Hüttenwirt der Sella-Hütte hatte uns deswegen geraten, über die linke Felsrippe ca. 100Hm nach oben zu steigen und erst danach die Schneeflanke in Richtung Paso del Naso zu traversieren. Gesagt getan. Wir folgen zunächst  einer offensichtlich älteren Spur neben der Felsrippe im 45° steilen Firn, bis wir später aufgrund einiger vereister Stellen in den Fels wechseln. Steigeisen und Eispickel in den Rucksack und weiter geht es. Mit einigen kurzen Sicherungen haben wir die 100Hm bald geschafft und wechseln wir auf die Steigeisen. Zunächst geht es noch eine Zeit weiter steil bergauf, wobei wir an den eisigen Passagen wieder mit einigen Eisschrauben sichern. Dann wird es flacher und der Schnee etwas weicher. Wir traversieren nun leicht nach Südost zum Paso de Naso, der eigentlich kein Pass ist, sondern nur eine flache Schulter im Gratverlauf des Cresta del Naso, die den einfachsten Übergang zum Lisjoch darstellt. Hier oben ist der Schnee jetzt sehr weich und wir sinken teilweise schon wieder knietief ein. Glücklicherweise ist dieser Abschnitt nicht allzu lang und bald sehen wir rechts unter uns das Felsband, welches den Beginn des Abstiegs markiert. Alternativ kann man mit Ski einen sicher 45° steilen Skihang hinab zum Lysgletscher abfahren. Nach kurzen Blick in diesen Hang und den weichen Schnee dort entscheiden wir uns für diese wesentlich direktere Variante. Jetzt kommt uns das tiefe Einsinken sehr entgegen, auch wenn Kay und Jens zweimal hüfttief einsinken und das Bein sich fast nicht mehr selbst aus dem Schnee bekommen. Trotzdem ist der Hang von 200Hm in einer guten halbe Stunde gemeistert und wir stehen schwitzend auf dem flachen Lysgletscher. Pause.

Es ist jetzt wieder so unerträglich heiß, dass die Kehlen brennen. Man kann fast fühlen, wie uns die Sonne verbrennt, trotz des mehrfach aufgetragenen Sonnenschutzes. Glücklicherweise ist der Schnee hier unten auf dem Gletscher noch nicht vollständig aufgeweicht und so kommen wir gut voran mit den letzten 200Hm Aufstieg zu unserenm Biwak, das spektakulär auf einem Felsvorsprung inmitten des Lysgletschers auf 4167m Höhe liegt und durch seine riesige Christusstatue schon von weitem zu sehen ist. Laut UIAA gilt dieser Fels sogar als selbständiger 4000er mit dem Namen Balmenhorn, naja… Über einen kurzen, aber nahezu senkrechten Klettersteig erreichen wir die kleine Biwakhütte Bivacco Giordano gegen 14 Uhr und damit wahrscheinlich gerade rechtzeitig noch vor dem kompletten Aufweichen des Schnees. Direkt vor dem Biwak führt die sogenannte Spaghetti-Route entlang, wo heute zahlreiche Tourengänger und auch Skitourenfahrer auf der mit Stangen markierten Trasse von der auf 3600m gelegenen Gnifettihütte in Richtung Signalkuppe unterwegs sind. Mal sehen, wie wir heute auf dieser für uns noch ungewohnten Schlafhöhe zurecht kommen werden. Die Hütte ist klein, bietet aber neben einem kleinen Aufenthaltsraum mit Gaskocher auch circa 6 Schlafplätze im Dachboden, die nur über eine Leiter zu erreichen sind. Sogar eine kleine Terrasse mit hervorragender Aussicht ist vorhanden, nur für ein Toilettenhäuschen war wohl kein Platz mehr auf dem Gipfel…


Donnerstag, 17.6.21

4000er Tag und Übernachtung auf Europas höchster Hütte

Die Nacht in der Biwakhütte war den Umständen entsprechend gut. Na klar, durchschlafen auf dieser Höhe war wohl kaum zu erwarten, trotzdem fühlen wir uns relativ ausgeruht, als wir gegen 5 Uhr aufstehen. Nach morgendlichem Nebel zieht es mit den ersten Sonnenstrahlen frei und so können wir unseren Tag schon vor 7 Uhr bei wieder sehr guten Bedingungen beginnen. Heute ist 4000er Tag, eine Kette von mehreren Gipfeln soll uns bis zur Signalkuppe (4554m) führen, auf der Europas höchstes Bauwerk in Gestalt einer Berghütte thront. Zunächst steigen wir zu einem Pass auf, von dem wir den Corno Nero (4321m) besteigen könnten. Leider ist der steile Schlußhang völlig vereist und damit ziemlich heikel. Da es heute aber noch mehrere höhere Gipfel zu besteigen gibt, verzichten wir und wenden uns stattdessen der direkt nördlich gelegenen Ludwigshöhe (4343m) zu, welche über steile Firnhänge zu erreichen ist. Aber auch hier wartet ein Schrund, der überstiegen werden muss. Der Gipfel besteht nur aus einem scharfen Grat und lädt nicht gerade zur Pause ein, obwohl der Ausblick geradezu nach eine Pause schreit.

Die Ludwigshöhe stellt von jetzt an auch wieder die schweizerisch-italienische Grenze dar, deren Verlauf wir von jetzt an den ganzen Tag folgen werden. Die Monte Rosa Gipfel und der Liskamm wirken zum Greifen nahe und ragen aus der arktisch anmutenden Gletscherlandschaft hervor. Der Abstieg hält auch noch eine Überraschung in Form eines 1,5m hohen Bergschrundes bereit, welchen wir von oben nicht einsehen können. Jens steigt als erster gesichert hinunter und kann direkt von der Abbruchkante erkennen, dass der Schrund nach unten wenigstens keine offene Spalte besitzt. Somit kann ich ihn am Seil über den Schrund ablassen, während er sich mit den Beinen am Eis abstützen kann. Kay folgt auf die gleiche Weise und ich lasse zunächst meinen Rucksack am Seil nach unten, bekomme dafür einen zweiten Pickel am Seil und steige dann in den guten Tritten der beiden rückwärts nach unten. Den Schrund springe ich einfach ab und lande weich im Schnee. Nach kurzem Abstieg ins Piodejoch (4284m) folgt dann der nächste Anstieg auf die Parrotspitze, dem nächsten Gipfel auf unserer Sammlertour. Auch hier ist zunächst ein steiler Aufschwung zum Westgipfel zu überwinden, bevor sich ein schmaler Schneegrat wie eine Himmelsleiter zum Hauptgipfel auf 4434m zieht. Direkt vor uns taucht jetzt auch unser heutiges Ziel auf, das Rifugio Margaritha auf der nochmal etwas höheren Signalkuppe. Dahinter sind auch schon die noch höheren Monte Rosa Gipfel Zumsteinspitze (4564m), Dufourspitze (4634m) und Nordend (4608m) zu erkennen.

Von der Parrotspitze geht es über Firnhänge erst hinab ins Seserjoch (4299m), bevor wir auf dem heutigen Schlußanstieg nochmal 150Hm bis zum Col Gnifetti, der Einsattelung zwischen Signalkuppe und Zumsteinspitze in Angriff nehmen. Obwohl es erst gegen 11 Uhr ist, knallt die Sonne wieder erbarmungslos auf uns herab. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal in den Alpen auf über 4000m so geschwitzt zu haben. Der Anstieg verläuft schleppend in dieser Höhe, der Hitze und mit unserem Gepäck. Alle 50 Schritte mache ich eine Pause von 30-45s, um Luft zu schnappen. Den anderen geht es ähnlich, wie ich am Keuchen hinter mir erkennen kann. Trotzdem kann ich die beiden überzeugen, die nahe Zumsteinspitze (4563m) anzugehen, welche vom Col Gniffetti in einer halben Stunde erreichbar ist. Ohne Rucksäcke steigen wir den nicht so steilen, dafür aber sehr ausgesetzten Firngrat bis zu zum felsigen Gipfelaufbau, den wir kurz bis zum Gipfel sichern. Auch von dort ist der Blick überwältigend, speziell auf die direkt in der Gratverlängerung liegende Dufoursspitze (4634m), des zweithöchstem Berges der Alpen nach dem Mont Blanc.

Nach den obligatorischen Fotos geht’s zurück zum Col, wo wir unsere Rücksäcke wieder aufnehmen und nochmal 100 quälende Höhenmeter im Schneckentempo hinter uns bringen, bevor wir endlich vor der Hütte stehen, welche direkt an der Abbruchkante der über 2000m hohen Südwände gebaut wurde und mit zahlreichen Stahlseilen zur Nordseite abgespannt wurde. Das Winterquartier der großen Hütte ist offen, während die Hütte selbst ab übermorgen für die Bewirtschaftung öffnet. Das Hüttenpersonal ist bereits hier und bereitet alles dafür vor. Wir sind die einzigen Gäste und dürfen deshalb auch den gemütlichen und großzügigen Hauptraum der Hütte nutzen.


Freitag, 18.6.21

Abstieg nach Zermatt über den Grenzgletscher

Der Wecker klingelt schon 4:30 Uhr. Gut geschlafen haben wir alle nicht so, was aber in Anbetracht der Höhe auch kein Wunder ist. Wir teilen das letzte Müsli und füllen noch für jeden eine extra Flasche für den Tag ab. Der Tag kann lang werden, da der spaltige Grenzgletscher immer für Überraschungen gut ist. Gegen 6 Uhr verlassen wir das Rifugio bei erstmals normal-alpinen Bedingungen. Ein scharfer Wind bläst uns bei leichten Minusgraden und schlechter Sicht entgegen. Der Abstieg zum Col Seser ist problemlos, da wir der ausgetretenen Trasse und den Markierungsstangen folgen können. Dort angekommen drehen wir nach Norden ein, finden aber zunächst keinerlei Spuren. Per Kompass geht es so eine ganze Weile leicht über den noch spaltenarmen Teil des oberen Grenzgletscher mehr oder weniger im Blindflug. Glücklicherweise klart es bald darauf auf, was die Orientierung nun wesentlich vereinfacht. Der erste Steilabbruch beginnt bei ca. 4000m. Die Bruchzone mit haushohen Eisblöcken vermeidend, suchen wir uns einen Weg auf der rechten Seite, ohne aber zu nah an die vom Monte Rosa herabziehenden Eisblöcke der Hängegletscher zu kommen.

Jetzt finden wir auch einige, scheinbar schon ältere Fuß- und Skispuren, die uns zumindest verraten, wie der ungefähre Weg durch das Spaltenlabyrinth verläuft. Allerdings verändern sich die Bedingungen durch die Schneeschmelze permanent und die Spuren führen manchmal über jetzt ganz oder teilweise geöffnete Spalten. Hier müssen wir dann Umwege in Kauf nehmen, um besser geeigneten Stellen zum überqueren zu finden. Und manchmal enden wir auch in einer Sackgasse. Das ganze ist durchaus spannend, da man nicht unbedingt in eine Spalte treten oder sogar einbrechen will. An heiklen Stellen gehen wir am straffen Seil oder sichern den jeweils querenden kurz mit dem Eispickel. Nach Überwindung des ersten Eisbruchs folgt ein nahezu spaltenfreies Flachstück, bei dem wir die grandiose Szenerie bewundern können. Zur linken die bis zu 1000m, eisgepanzerten Nordwände des Liskammes und rechts die Hängegletscher des Monte Rosa. Bei nunmehr blauem Himmel und Sonnenschein eine wirklich spektakuläre Landschaft.

Bei ca. 3700m folgt der zweite, schwierigere Eisbruch. Hier hat sich durch einen größeren Felsen, der aus dem Gletscher herausragt, eine regelrechte Eisschlucht von mehr als 100 Metern Höhe herausgebildet, die definitiv unpassierbar ist. Hier müssen wir nun zwischen Eisschlucht zur rechten und dem Bruch zur linken einen Weg bahnen, was nochmal für reichlich Spannung und einen kleinen Verhauer führt. Unten angekommen schnaufen wir erstmal durch und gönnen uns eine kleine Pause.

Das Gröbste ist ja nun geschafft. Denkste! An einer recht harmlosen Stelle bricht Kay als Seilletzter tatsächlich noch in eine Spalte ein und verschwindet kurzzeitig von der Oberfläche. Da wir allerdings mit recht straffen Seil unterwegs sind, können wir den Sturz problemlos halten, während Kay sich mühsam selbst wieder nach oben windet. Wir sind also gewarnt und bleiben konzentriert, obwohl sich auf den letzten 300 Höhenmetern jetzt ein sehr einfaches, flaches Gelände anschließt. Der Schnee auf dem Gletscher wird jetzt, bei über +10°C Außentemperatur, immer weicher und schwerer und so freuen wir uns, bei ca. 3000m endlich ins Geröll wechseln zu können. Über große Blöcke hüpfend und einzelne Schneefelder vermeidend, legen wir die restliche Strecke zur nahen Monte-Rosa-Hütte zurück, wo wir gegen 11 Uhr ankommen. Die futuristisch anmutende Hütte ist zwar noch geschlossen, bietet aber auf der schon schneefreien Terrasse einen prima Pausenplatz mit umfassender Aussicht auch auf den unteren Grenzgletscher.

Unser Weiterweg zur Station Rotenboden ist auch schon gut von hier aus erkennbar. Nach einer Stunde setzen wir unseren Weg fort und wollen den neuen ‚Panoramaweg‘ nehmen, brechen das aber bereits nach wenigen Minuten ab, da der Weg immer noch mit aufgeweichten Schneefeldern gespickt ist. Nach gut 100 m mit knietiefem Einsinken sehen wir ein, dass dieser Weg heute wohl der schwierigere sein wird. Also der ‚alte‘ Weg. Dieser führt zunächst ca. 300Hm hinab zum Grenzgletscher, von wo es einen kurzen Abstecher auf das Blankeis gibt. Schmelzwasserbäche müssen übersprungen werden, um keine nassen Schuhe zu bekommen. Nach einem weiteren Abschnitt im Geröll der Seitenmoräne wechseln wir direkt an der Gletscherzunge des jetzt einmündenden Gornergletschers wieder auf das Eis und müssen jetzt nochmal einige 100m aufsteigen, um die einzige Möglichkeit des Ausstiegs zu den blankgeschliffenen Felswänden des Gornergrates zu bekommen. Da das Eis hier zunehmend zurück geht, finden wir erst etwas oberhalb eine günstige Stelle zum Verlassen des Eises und müssen nun für ca. 50m an der Randkluft zwischen dem Eis und den glatten und herrlich marmorierten, rötlichen Felsen entlanghangeln. Dann beginnt ein mit Seilen versicherter Weg über die steilen Felsen nach oben. Nach einem flachen Wegstück geht es jetzt nochmal kurz bergab und per neuer Brücke über einen weiteren Gletscherabfluss. Es schließen sich zwei kurze, vielleicht je 10m lange Leitern an, die uns zu einem Bergwanderweg führen, der jetzt immer parallel zum Grenzgletscher und leicht ansteigend, in Richtung der Bahnstation Rotenboden führt.

Da der unerwartet eindrucksvolle Weg doch mehr Zeit als erwartet gekostet hat und wir den geplanten Zug nach Zermatt kaum noch schaffen können, gönnen wir uns an einem kleinen See eine lange Pause mit kühlem Fußbad. Was für eine Wohltat! Mit fast frischen Füßen, bei entspanntem Tempo und dem Blick auf das direkt vor uns liegende Matterhorn meistern wir auch die letzte Stunde bis zur Station, von wo wir den letzten Zug ins Tal um 17:23 Uhr nehmen. Mit den frischen Sachen, die wir vor 5 Tagen in einem Schließfach am Bahnhof deponiert hatten, geht’s in unsere Unterkunft, wo es endlich die lang ersehnte Dusche gibt und wir uns danach mit einer guten Pizza und einigen Bieren für die Strapazen der letzten Tage belohnen. Was für eine grandiose Tour!